Wir waren spät dran ... und setzten uns an den Katzentisch zu den Tontechnikern. Während CD Weißwein holte, suchte ich vergeblich nach Anke & Co. Kein Balkon, kein Garten, nichts; nur die vielen anderen, CD und ich. Und dann ging's auch schon los. Ein redseliger Moderator aus dem Rheinland begrüßte die Versammelten im Restaurantkubus "Fiedrich's" der Temporären Kunsthalle (Schloßplatz 1 – famose Adresse!), und stellte Dr. Brigitte Franzen, die Hauptreferentin des Abends, mit wolkigen Worten vor. Brigitte F. sah ziemlich so aus, wie ich sie mir kurz zuvor in der U-Bahn ausgemalt und CD beschrieben hatte: schwarze Haare, mittelgroß und irgendwie apart. Nur trug sie keinen hellblauen Anorak mit Fellkapuze wie damals Ende der Siebziger beim Schlittschuhlaufen im Schwarzwald, dafür aber Turnschuhe, die CD gefielen.
Brigitte F. bekam das Mikro überreicht, setzte ihre schicke Lesebrille auf und hielt ein Impulsreferat. Die Stimme hatte ich mir höher vorgestellt, leiser. "…Begriffstheorie … Berliner Republik … politisch ausgeschlachtet …". Souverän, dachte ich, und klar. "Koppelung von Landschaft und Personenphysiognomien …". Ob sie als Kind abends wohl auch so oft aus den Großelternfenstern geglotzt hatte wie ich, eine Doppelhaushälfte weiter? "… Fototapete … Heimatfilm … Desktopbilder …". Im Urlaub glotzt man anders, länger, verträumter, versunkener. Ich glotzte in die Runde, und die Runde glotzte auf Brigitte F., und der Tontechniker saß da wie hundert Pfund Geschnetzeltes und glotzte in sein Popmagazin. Seine rechte Hand steckte tief in der Hosentasche, Zeigefinger und Daumen seiner linken aber waren auf dem qui vive und umfassten den Lautstärkeregler des Mischpultes. Er las einen Artikel mit der Überschrift "Sex, Drugs and Rock'n'Roll", Brigitte F. sagte "… Kapitalisierung der Landschaft … Kulturanthropologie … Zäsur …" und ich dachte "Golftasche", obwohl das ein Stativbehälter war, was da neben mir stand.
Dann übergab Brigitte das Mikro an Marc von atelier le balto. Marc klang supernett und supercharmant und stellte ein gemeinsames Garten-Projekt von Brigitte F. und atelier le balto in Aix-la-Chapelle (Aachen) vor. Die recht charmante grauhaarige Frau von atelier le balto sagte auch was, Marc von atelier le balto hielt dazu große, auf Pappe geklebte Schwarweißfotokopien in die Höhe, es klang superwichtig, was die Frau sagte, aber ich verstand sie nicht, weil der Tontechniker nämlich umgeblättert hatte und nun die Witz-Seite las.
Ich drehte mir eine Zigarette und ging raus. Auf der Terrasse lag eine alte Fackel tot am Boden. Die Spitzen zweier umgekippter, toter Topf-Koniferen zeigten gen Südwesten, Richtung Schwarzwald. Ein leerer Müllrollcontainer wurde von Geisterhand und Wind in die Ecke gedrängt. Und etwa hundert Meter westlich hatten Riesen auf ihrer Wandzeitung notiert: "Vattenfall fordert den Wiederaufbau der Bauakademie von Schinkel"- oder so ähnlich. Der Sound war o.k., aber der Tontechniker fror ein wenig, als ich wieder hereinkam – er in seinem etwas dünnen, schwarzen Kapuzenshirt (frisch gebügelt) mit dem kleinen, roten Stern drauf (sorgfältig aufgenäht). Auf der Thekenecke sah ich erst jetzt einen smarten Trockenblumenstrauß. Bestimmt hatte der Restaurantbesitzer so seine Schlüsse gezogen, draußen bei einer Zigarette, vorgestern vielleicht. Der redselige Moderator aus dem Rheinland nahm nun das Mikrofon wieder an sich, da die Diskussion irgendwie normativ zu entgleiten drohte, und so fasste er mal eben mit langen Worten irgendwas schön zusammen.
Man verabschiedete sich oder man blieb oder man wartete vergeblich auf etwas. CD ging kurz zu Marc von atelier le balto auf ein bonjour-salut, ich aber ging nicht zu Brigitte F., weil sie gerade in ein Gespräch verwickelt worden war. Auf dem Nachhauseweg gab ich CD meinen Mantel, denn erstens dachte ich an die Koniferen und zweitens wollten wir uns anschließend einen Film über unbesiegbare Männer angucken. Vor dem Fernseher liegend steckte ich meine rechte Hand in CDs Hosentasche und umfasste mit Daumen und Zeigefinger meiner linken den Nikotinregler.
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