Letzter Abend
Zur Feier des letzten Abends, hier nochmal die Kolumne von Wolf Klein aus dem aktuellen Balkon & Garten Heft.
Begegnungen im Blumenladen
der Nachbar
Am letzten Abend des Blumenladens in Friedrichshain feierten wir ein Abschiedsfest. Irgendwann stand der Nachbar im Laden, zwischen den anderen Menschen. Er war wohl gerade vorbeigelaufen, hatte die Menschen gesehen und fühlte sich eingeladen. Da stand er dann. Der Nachbar wohnt im Haus nebenan. Die ganzen Jahre des Blumenladens habe ich den Nachbarn täglich gesehen. Er lief jeden Tag mit seinen leeren Bierflaschen zum Kiosk an der Ecke und kam dann später mit vollen Bierflaschen wieder zurück. Der Nachbar trägt immer dieselben Sachen. Eine sehr enge, ehemals schwarze Jeans, Springerstiefel, ein T-Shirt und darüber eine schwarze Lederjacke. Die Lederjacke ist mit Lackspray verziert worden. Gelbe und rote Flecken. Passend dazu trägt er manchmal eine bunte Samtmütze. Er wirkt ein bisschen wie ein mittelalterlicher Narr. Und er hat rötlichblond gefärbte Strähnen im verfilzten Haar. Ich habe oft versucht, mir vorzustellen, wie er in seinem Badezimmer sitzt, mit Alufolie und Blondierung in den Haaren. Ob er das wohl selbst macht, oder ob ihm jemand hilft. In den ersten Jahren war er immer in Begleitung einer Frau zum Kiosk gegangen. Eine dicke Frau, die immer sehr enge, zerrissene Strechhosen trug. Und die Haare der beiden sahen sehr ähnlich aus. Vor dem Kiosk an der Ecke haben sie dann häufig andere Menschen getroffen. Und dann standen sie dort zusammen. Die dicke Frau war immer die einzige Frau dabei. Ich kam einmal an einem sonnigen Vormittag an dem Kiosk vorbei, da stand die Frau etwas abseits von den anderen. Sie war gerade dabei, sich zu erbrechen. Sie kotzte hellen, schaumigen Schleim durch das Gitter eines Kellerfensters. Irgendwann war die dicke Frau nicht mehr dabei und der Nachbar geht seither allein zum Kiosk und zurück. Geredet haben wir nie miteinander. Ich war mit den Jahren immer sicherer, dass der Nachbar mich gar nicht bemerkt. Und nun stand er da, mitten im Raum. Und ich tat erstmal so, als hätte ich mit all dem gar nichts zu tun. Und hoffte darauf, dass er einfach wieder gehen würde. Er ging nicht. Er wollte ein Bier. Und irgendjemand hat ihm dann auch ein Bier gegeben. Später saß er dann auf einem Stuhl im Nachbarraum, hat mehr Bier getrunken und ab und zu ein paar Sätze in den Raum gebrüllt. Wir gewöhnten uns an ihn. Die Gäste waren an diesem Abend eingeladen, Abschiedsgrüße, Kommentare oder Wünsche mit Stiften direkt auf die Wand zu schreiben, da wir danach sowieso renovieren mussten. Dieses Treiben hat der Nachbar auf dem Stuhl sitzend lange interessiert beobachtet. Irgendwann stand er auf, und bevor er ging, nahm er einen Stift und hinterließ uns auch einen Abschiedsgruß. "Ich bin geiler als Gott! Atze".
Und da ein Abschied ja auch immer ein Neubeginn ist, sei heute soviel verraten, dass es den Blumenladen bald wieder geben wird. 2007 eben. Vielleicht ähnlich wie in Wolfs Ausstellung in Essen. Oder anders.
Bis dahin viele schöne Abschiedsgüße und einen guten Rutsch ins neue Jahr!